Symbolbild - Innenansicht einer Halle auf einem Gewerbegelände in Berlin-Lichtenberg, das als Dreh- und Angelpunkt für Menschenhandel gilt. (Bild: imago images/koall)
Video: Abendschau | 18.01.2021 | Adrian Bartocha | Studiogast Laura Burens-Stratigakis | Bild: imago images/koall

Organisierte Kriminalität

Seit Jahren schleusen kriminelle vietnamesische Organisationen ihre Landsleute nach Europa - und beuten ihre Opfer hier aus. Darunter sind auch Kinder und Jugendliche. Ihr Weg führt immer wieder über Berlin. Von Adrian Bartocha und Jan Wiese

Chung* ist ein schmächtiger Junge. Seit einiger Zeit lebt der junge Vietnamese in Warschau an einem geheimen Ort. Wenn ihn die Angst überkommt, fängt er an zu zeichnen. Das beruhige ihn, erzählt er. Dabei wurden seine Peiniger längst verurteilt.

Symbolbild - Die Hände eines jungen Opfers von Menschenhandel gestikulieren, während er erzählt (Quelle: rbb/René Althammer)
Bild: rbb/René Althammer

Nach dem Tod seiner Eltern lebte Chung in Vietnam bei seiner Großmutter, bis auch sie starb. Um zu überleben, sammelte er Muscheln, Schnecken, Treibholz und Flaschen, so erzählt er. Eines Tages kam ein Landsmann auf den damals 15-Jährigen zu und bot an, ihn nach Deutschland zu schleusen. Dort könne er sich ein besseres Leben aufbauen. Chung willigte ein. Doch schon auf der Reise über Russland und die baltischen Staaten nach Polen, überkamen ihn Zweifel: Immer wieder wurde er in Kellern festgehalten und zur Arbeit gezwungen. "Da hatte ich schon das Gefühl, dass ich vielleicht reingelegt wurde. Ich habe versucht, mich zu wehren, aber die haben mich geschlagen."

Auf dem Weg von Warschau nach Berlin endete Chungs Traum vom besseren Leben abrupt. Der Transporter, vollgestopft mit zwölf Vietnamesen, geriet in einen Unfall. Der polnische Fahrer floh und überließ die zum Teil schwer Verletzten ihrem Schicksal.

Hohes Dunkelfeld

"Wir gehen von einem sehr hohen Dunkelfeld aus", stellt Carsten Moritz vom Bundeskriminalamt (BKA) fest. Moritz ist Referatsleiter Menschenhandel beim BKA. Auch wenn die offizielle BKA-Statistik für Deutschland nur sieben vietnamesische Opfer von Menschenhandel ausweist, stoßen Polizei und Zoll bei Kontrollen immer wieder auf eingeschleuste, illegal beschäftigte Vietnamesen. Meist arbeiten sie unter widrigsten Bedingungen. "In Massagestudios, Restaurants, Nagelstudios", erklärt Moritz im Interview mit rbb24 Recherche, aber "auch beim Zigarettenschmuggel und in der Schlachtindustrie." Auch in Bordellen und beim illegalen Cannabis-Anbau stießen Ermittler auf Vietnamesen.

Berlin im Zentrum

Berlin sei für die kriminellen vietnamesischen Menschenhändler dabei "Dreh und Angelpunkt" für Deutschland und Westeuropa, erklärt Moritz weiter. Von zentraler Bedeutung ist dabei ein Industrie- und Gewerbegebiet im Stadtbezirk Lichtenberg, auf dem sich auch viele vietnamesisch-stämmige Geschäftsleute angesiedelt haben. Von Berlin aus würden illegal eingeschleuste Vietnamesen an Geschäftsleute in Deutschland und Westeuropa vermittelt.

Nach dem Unfall wird Chung gefasst und sagt in Polen aus. Die Schleuser werden festgenommen, darunter auch Andrzej*. Der polnische Schwerkriminelle leitete eine dreiköpfige Gruppe, die im Auftrag der vietnamesischen Mafia Vietnamesen aus Litauen nach Warschau und von dort weiter nach Berlin, aber auch nach Belgien, Holland und Frankreich brachte - für 400 Euro pro Person, zusammengepfercht in Kleintransportern. Über ihr Schicksal machte sich Andrzej keine Gedanken: "Sie waren eh alle gelb, klein und dünn". Schlagen würde er "solche" nie, erzählt er im Interview, angeblich aus "Angst, sie umzubringen…" und lacht. Inzwischen sitzt er in Polen im Gefängnis, verurteilt wegen Menschenhandels.

13-Jährige als Prostituierte

"Hochprofessionell, hierarchisch aufgebaut mit einer grauen Eminenz im Hintergrund, ähnlich einem international agierenden Unternehmen", beschreibt Markus Pfau, Leiter der Kriminalitätsbekämpfung bei der Bundespolizei in Halle die kriminellen vietnamesischen Organisationen, die in europaweiten Netzwerken zusammenarbeiten. Nach seinen Erkenntnissen verlangen die Menschenhändler bis zu 20.000 Euro pro Person für den Weg nach Westeuropa, die dann abgearbeitet werden müssen. Zu den Opfern gehören auch Minderjährige. "Wir hatten Fälle, wo wir 13-, 14-jährige Mädchen als Prostituierte wiedergefunden haben, die dafür eingeschleust worden sind", schildert Markus Pfau.

Markus Pfau, Leiter der Kriminalitätsbekämpfung bei der Bundespolizei in Halle. (Quelle: rbb/René Althammer)Markus Pfau, Leiter der Kriminalitätsbekämpfung bei der Bundespolizei in Halle

Kampf gegen Menschenhandel wird zum Schwerpunkt

Während Ermittler bundesweit immer wieder feststellen, dass viele geschleuste Vietnamesen zuerst in Berlin "abgeliefert" und dann ins gesamte Bundesgebiet weiter verteilt werden, spielt das Problem hier keine besonders große Rolle. "Die Kriterien für Menschenhandel im Kontext Schleusung sind im Regelfall nach unseren Erfahrungen nicht erfüllt", erklärt Sebastian Laudan, Chefermittler im Bereich der Organisierte Kriminalität im Landeskriminalamt Berlin.

Damit stellt sich Laudan nicht nur gegen die Einschätzung des Bundespolizisten Markus Pfau, sondern auch die des BKA. "Diese Schleusungen", so BKA-Referatsleiter Moritz, "dienen immer einem Zweck: Menschenhandel."

Das BKA macht den Kampf gegen den Menschenhandel von Vietnamesen in Deutschland und Europa ab 2021 zu einem Schwerpunkt - gemeinsam mit zwölf weiteren europäischen Ermittlungsbehörden. Denn, so Moritz, es handelt sich um "ein gesamteuropäisches Problem", das nur europäisch bekämpft werden kann.

*Name von der Redaktion geändert

Beitrag von Adrian Bartocha und Jan Wiese